Interview mit Rabbiner Netanel Olhoeft

Auferstehung Juden kirchenPÄDAGOGIK 2021

Was versteht das Judentum unter einem Leben nach dem Tod, das, was in der christlichen Begrifflichkeit „Auferstehung“ genannt wird?

Der Begriff „Auferstehung“ ist kein Problem. Das hebräische Wort T’chiyat Hameitim heißt übersetzt „Auferstehung der Toten“ und steht für ein zentrales Konzept der rabbinischen jüdischen Theologie der letzten 2000 Jahre.

Die hebräische Bibel macht Andeutungen zur Auferstehung der Toten, so im Buch Jesaja und Ezechiel. Ezechiel steht vor einem mit trockenen Knochen gefüllten Tal und die sterblichen Überreste fügen sich wieder zu einem ganzen Volk zusammen. Im Buch Daniel heißt es explizit, dass am Ende die Toten auferstehen werden, diese zum ewigen Leben und jene zu ewiger Schande. Die rabbinische Tradition, vor allem die pharisäische, hebt hervor, dass diese Auferstehung der Toten zentral und wichtig ist und irgendwann in der Zukunft erfolgen wird, so dass fast alle Toten auferstehen werden.

Zur Zeit des zweiten Tempels diskutierten verschiedene Gruppierungen darüber. Die rabbinische Tradition, die heute weltweit das Judentum prägt, thematisiert hat es in der Mishna (erstes frühes Rechtskompendium des rabbinischen Judentums), obwohl die Mishna kein dogmatisches, sondern ein praktisches Buch ist. Sie formuliert einige dogmatische Aussagen: eine davon besagt, dass diejenigen, die sagen, es gäbe keine Auferstehung der Toten, keinen Anteil an der kommenden Welt haben. Hier laufen zwei Aspekte zusammen, so dass die innere Gesinnung mit der äußeren Auferstehung zusammenpassen muss. Die Rabbinen der Frühzeit konnten das relativ harsch formulieren.

Der Talmud sucht die Aussagen auf biblische Quellen zurückzuführen, denn die Mishna sagt, es müsse aus der Thora herzuleiten sein. Die Thora im engeren Sinn sind die fünf Bücher Mose, der Pentateuch. Natürlich meint Thora in der jüdischen Tradition mehr, den ganzen Tanach, auch die ganze rabbinische Tradition und alles, was irgendwann ein Schüler seinen Lehrer fragte. Das ist auch Thora und das stammt auch schon von Moses. So versucht der Talmud auch die Auferstehung der Toten aus dem Pentateuch herzuleiten, was nicht so einfach ist.

In der rabbinischen Zeit (bis ca. 400 u.Z.) und noch in Babylon (bis 600 und 700 u.Z.) dachte man offenbar so: die Auferstehung der Toten geschieht am Ende der Zeiten durch den Messias. Das heißt: die Welt wird wieder „vervollständigt“. Die einmal gelebt haben, kehren zurück und dies leitet die Umwandlung dieser Welt in die kommende Welt ein; man spricht von „Olam HaSzeh“ und „Olam Haba“, „diese Welt“ und „die kommende Welt“. Wir leben jetzt in einer Zeitspanne der irdischen Welt, in einem materiellen Universum und in physischen Körpern. Doch irgendwann wird, wie es das Buch Jesaja sagt, diese Welt umgewandelt werden in einen neuen Himmel und eine neue Erde, also in etwas, das anders ist als das, was wir jetzt kennen. Vielleicht ist es die Rückkehr des Garten Eden oder die Transformation dieser Welt in irgendeiner Form zu etwas Spirituellem, zu etwas Geistlichem, bei dem der Übergangspunkt die Auferstehung der Toten ist.

Ich denke, das ähnelt dem christlichen Denken und unterscheidet sich gar nicht so sehr. Also das war das Herkömmliche, nur findet sich dort nicht die Idee, dass der Messias selber sterben und auferstehen muss, um das zu bewirken. Es ist wie ein Naturgesetz oder ein göttliches Wunder in der Endzeit, das geschehen muss.

Über die Auferstehung der Toten haben die Weisen recht wenig gesagt, aber sie haben sie offenbar sehr physisch vorgestellt. Unter den jüdisch rechtlichen Fragen wird z. B. das Verbot in der Thora betrachtet, dass man keine Kleidungsstücke tragen soll, die aus Wolle und Leinen gemischt sind. Die talmudischen Weisen diskutierten, ob Tote in solchen Kleidungsstücken beerdigt werden dürfen. Denn wenn die Auferstehung der Toten eintritt, wäre das Erste, was sie in ihrem Leben tun, ein Verbot der Thora zu übertreten. Hier sieht man, wie stark die Auferstehung der Toten mit relativ physischen Vorstellungen verbunden war: die Menschen stehen aus dem Grab auf und leben dann neu weiter.

Über die messianische Zeit und die Zeit der Auferstehung der Toten haben die Weisen viele Wundergeschichten erzählt. So beispielsweise, dass die Bäume Brot tragen werden oder dass Brot direkt fertig aus der Erde kommt; auch Kleidung wächst so aus der Erde. Den Tod gibt es eigentlich nicht mehr. Davon spricht auch Jesaja: wenn man mit 100 stirbt, dann ist man noch jung gestorben. Alt ist man erst mit 1000, so wie in der Urzeit vor der Flut, als die Menschen noch näher am Garten Eden lebten.

Die Weisen waren relativ strikt, wenn sie sagten, all diese Wundersachen gehören zur messianischen Zeit. Was danach folgt, was die kommende Welt selbst ist, das ist ein eher spirituelles Dasein, das kein prophetisches Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und niemand kann direkt etwas darüber sagen. Einzig ein Bild verwenden die Weisen, nämlich das von den Gerechten mit Kronen auf ihren Köpfen, die im Kreise sitzen und am Glanz der göttlichen Präsenz Genuss finden. Das ist natürlich nur ein Bild, es spiegelt aber wider, was man sich unter der kommenden Welt vorzustellen hat: die Menschen sind Gott sehr nahe und befinden sich irgendwie in einer erhabenen Form dort. Das ist das alte rabbinische Modell.

Im Mittelalter greift das Judentum im Dialog mit aristotelischen und islamischen Denkweisen philosophische Anschauungen auf und analysiert und deutet die talmudische Tradition neu. Einer der radikaleren Philosophen ist Moses Maimonides (geboren 1135/1138 Córdoba; gestorben 13. Dezember 1204 Kairo), der sehr streng unterschied zwischen der kommenden Welt und der Auferstehung der Toten. Die Auferstehung gehört zum Fundament unserer Religion, aber er wollte keine Vermengung mit der kommenden Welt. Die kommende Welt konnte er sich nur als das Nachleben der Seele nach dem individuellen Tod vorstellen. Der Mensch stirbt und in dieser Welt muss er sich daher perfektionieren, sei es durch das Lernen der Philosophie, die Besserung des Charakters und natürlich durch das Studium der Thora. Nach dem Leben ist die Seele so gereinigt, dass sie sich durch ihren Intellekt und ihre Eigenschaften direkt an Gott anhängen kann. Der Körper ist nur ein Kleid und verschwindet. Maimonides sah in der Auferstehung nur ein Wunder, das sich in der Zukunft ereignen werde, doch die Welt gehe einfach weiter, als wäre nichts Großes passiert.

Andere Gelehrte der Zeit orientierten sich strenger am talmudischen Denkschema: die Auferstehung der Toten sei nicht nur die Auferstehung in den leiblichen Körper, den wir jetzt kennen, sondern in einen metaphysischen Körper.
 

Welche Vorstellungen / Bilder gibt es vom Leben nach dem Tod? Was sind wichtige Elemente (z.B. Gericht, Paradies)?

Mit der Auferstehung der Toten ist auch die Idee eines Gerichts verbunden. Die Tradition ist nicht so eindeutig, ob es ein gesammeltes Gericht für alle am Ende gibt oder ob es ein individuelles Richten des Menschen nach dem Tod gibt.

Bei den Propheten gibt es mehrmals die Vorstellung von einer Schlacht, einem Gericht oder einer Vernichtung der Ungerechten in einem Tal. Der Prophet Jeremia nennt das Tal Gehinnom, „Tal des Sohnes von Hinnom“. Jeremia weist hin, dass in diesem Tal die Könige von Juda den Brauch pflegten, ihre Kinder für den Moloch zu verbrennen oder durchs Feuer zu führen, eine Praxis, die die Propheten scharf kritisierten. Mit diesem schrecklichen Bild macht Jeremia deutlich, dass am Ende etwas Schlimmeres passieren wird: die Ungerechten werden verbrannt. Diese Begebenheit und das Wort Gehinnom prägen seit der Zeit des Zweiten Tempels die endzeitliche oder gerichtliche Strafwelt, die auf uns zukommt.

Was das Gehinnom bei den Weisen meint, wo es ist und was passiert, ist nicht so klar. Mal beschreiben sie es sehr physisch, wenn sie an das Vorkommen heißer Wasserquellen in Tiberias erinnern und diese so deuten, dass beim Graben in die Erde irgendwann das Gehinnom erreicht wird. Eines Tages werden die Menschen durch diese Feuerhitze von unten bestraft werden. Eine andere Vorstellung der talmudischen Literatur sieht das Gehinnom von oben kommen. Der Prophet Maleachi schreibt, dass Gott irgendwann eine Shemesh, eine „Sonne der Gerechtigkeit“, herbvorbringt. Sie bringt Leben und Tod, den Gerechten mehr Leben in der Endzeit und den Ungerechten ein bisschen weniger Leben. Gehinnom ereigne sich dergestalt, dass die Sonne größer und strahlkräftiger werde und alles verbrennt, mit Ausnahme der Gerechten. Denn die Gerechten sitzen am Sukkot-Fest in ihren Hütten in Jerusalem und bleiben verschont, weil sie sich unter einem Schattenschutz über ihrem Haupt bergen.

„Wer geht hinein – und wer nicht?“ Die Lehrschule Hillel (Anhänger des rabbinischen Judentums in der Zeit des Zweiten Tempels) sieht in der Welt drei Arten von Menschen: Gerechte Zaddikim, Ungerechte Resha‘im, Bösewichte, und dazwischen Beinonim, Leute, die nicht sehr gerecht und nicht sehr ungerecht sind. Letztere bilden die absolute Mehrheit der Menschen. Die wenigsten Menschen sind besonders heilig oder besonders böse, sondern dazwischen. Kommt der Tag des Gerichts, gehen die Gerechten überhaupt nicht in das Gehinnom; die Ungerechten aber gehen dahin und bleiben lange dort, vielleicht auch für immer, oder sie werden zu Asche. Die absolute Mehrheit der Menschen, Beinonim, gehen kurz hinein, kriegen Angst, werden kurz durch das Feuer erschreckt und gehen wieder hinaus. Sie sind gereinigt und dürfen auch an einen anderen Ort.

Die Vorstellung der Gerechten im Garten Eden wird ausführlich ausgemalt. Es gibt das Bild von einer Art Reigentanz, bei dem sich die Gerechten an den Händen halten und im Kreis tanzen. Sie tanzen um die göttliche Präsenz in ihrer Mitte und die Tanzenden zeigen mit ihrem Finger in die Mitte und sagen: „Das ist unser Gott!“ Das ist der ideale Zustand.
 

Welche Rolle kommt den Engeln / einem Engel für das Leben nach dem Tod zu?

Es gibt Engel, die spontan erscheinen, wieder verschwinden und keine Namen haben, aber ihre Auftritte sind göttliche Präsenz in der Welt. Andere Engel tragen einen Namen, etwa die Engel vor dem göttlichen Thron: Gabriel, Michael, Uriel und Raphael. An dieser Stelle kann die komplexe Vorstellung von Engeln nicht skizziert werden, doch auf einen besonderen Engel in der jüdischen Tradition namens Metathron ist hinzuweisen. Über ihn berichtet die rabbinische Tradition, dass er die Aufgabe des Hohepriesters im Himmel wahrnimmt. Es gibt also in der göttlichen Nähe eine Art Spiegelung des irdischen Tempels in Jerusalem mit den entsprechenden Diensten. Metathron handle dort schon mit den Gerechten zusammen, ja er opfere die Gerechten Gott, was bedeutet, dass die Opfer des Himmels die Seelen der Gerechten sind, die so Gott nahe gebracht werden. Über Metathron selbst wird gesagt, er sei besonders, weil er ein Mensch war, nämlich Henoch, der Nachkomme Adams. Die mystische Lesart der biblischen Verse zu Henoch, die es nicht von Anfang an gab, aber auch in der rabbinischen Tradition dominant wurde, besagt, er sei direkt in den Himmel aufgestiegen und der Engel Metathron geworden. Er wurde der Größte aller Engel, was auch heißt, dass die Menschen, wenn sie einst auferstehen oder wenn sie einst Gott nahe sind, größer sein werden als die Engel. Mehrere Midraschim sagen daher, die Menschen sind wichtiger als die Engel, auch wenn Engel gegenwärtig höher stehen und näher an Gott sind. Aber der Sinn der Schöpfung liege auf dem Menschen. In der kommenden Welt werden die Menschen höher sein als die Engel, wie man an Henoch sieht, der zu Metathron und dem Größten aller Engel wurde.
 

Welche Bedeutung hat der menschliche Leib für das Leben nach dem Tod? Oder lebt nur die Seele weiter?

iblische und talmudische Herangehensweise sehen in der Auferstehung der Toten das Wichtigste, einen großen Einschnitt der Geschichte und das, was für die kommende Welt relevant ist. Der Körper steht auf, Seele und Körper vereinigen sich wieder.

Schon in talmudischer Zeit und stärker noch im Mittelalter hat sich das verschoben: man betrachtet den Körper mehr als ein Kleid für die Seele. Der Körper ist nur Erde, die schwindet; die Seele aber ist das, was weiterlebt. Die Seele ist – so im Midrasch – eine Königstochter, die einen Bauernsohn heiratet. Die Ansicht, dass der Seele allein Relevanz zukommt und der Körper unwichtig erscheint, gibt es vor allem seit dem Mittelalter und bis heute.

Es gibt auch die Vorstellung, dass in dem Zeitraum, wo Körper und Seele getrennt voneinander sind, dennoch eine gewisse Aktivität im Tod besteht. Die Seele ist schon noch aktiv, und sie kann mit Gott reden. Die Seele kann aber auch leiden, ebenso der Körper. Die Weisen sagen z. B, dass der Wurm, der an der Leiche nagt, schmerzt. Und wenn es wehtun kann heißt es ja, da gibt es ein Bewusstsein.

Eine Vorstellung ist noch wichtig: Die Vorväter des jüdischen Volkes, Abraham, Isaak und Jakob, sprechen vor Gott Fürbitten für ihre Nachkommen, für die Juden in der Welt. Also sind auch sie wach.

Es findet sich die Vorstellung, dass das Gericht in der Hölle höchstens zwölf Monate dauert. Für die Hillel-Schule ist die Hölle für die meisten Menschen eher eine Art Purgatorium, wo eine Reinigung stattfindet. Deswegen ist es üblich, dass das Gebet für die verstorbenen Eltern ein Jahr lang gesprochen wird und nicht länger. Hier spiegelt sich die Idee wider, dass das Gericht des Menschen individuell nach dem Tod stattfindet und nicht irgendwann am Ende der Zeit. Doch diese Ansicht steht neben anderen, die sagen, es passiert alles am Ende.

Eine andere Auflösung sieht vor, dass die Seele nach dem Tod in einer Zeitlosigkeit existiert, einer permanente Ewigkeit. Deswegen erfährt man, wenn man stirbt, gleich die göttliche Präsenz; in ihr existiert die irdische Abfolge von Zeit nicht mehr und es macht keinen Unterschied, ob man am Ende der Zeiten gerichtet wird oder direkt nach dem Tod, denn beide Zeitpunkte fallen ineins. So zeigt es sich bei der philosophischen Herangehensweise.
 

Welchen Stellenwert hat das Leben nach dem Tod bei Juden, die in einer säkularen Gesellschaft leben?

Das ist eine der schwierigsten Fragen. Gerade solche Fragen z.B. um die Auferstehung der Toten sind bei säkularen Juden nicht so beliebt. Für viele Leute ist die Auferstehung eher befremdlich. Das klingt für die Leute nicht realistisch, gerade auch dann, wenn es mit vielen Bildern ausgestaltet wird. Wenn überhaupt, dann ist Leben nach dem Tod meist abstrakter gedacht, also ein Fortleben der Seele. Das sind Vorstellungen, die auch stark in der jüdischen Tradition vorhanden sind. Das wäre dann verbreiteter bzw. die Leute haben keine Meinung dazu und hoffen nur, dass irgendetwas ist.

Netanel Olhoeft (27 Jahre) wurde 2020 zum Rabbiner ordiniert. Am Institut für jüdische Theologie an der Universität Potsdam arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für jüdische Geistesgeschichte. Neben der Studienberatung unterrichtet er Hebräisch und Aramäisch, bietet Lehrveranstaltungen an zur rabbinischen Literatur der Antike, zu religionsphilosophischen Schriften des Mittelalters und zu den jüdisch rechtlichen Schriften der letzten 2000 Jahre. In Berlin unterstützt er in privaten Lerngruppen die schnell wachsende jüdische Gemeinschaft (junge Jüdinnen und Juden aus Israel, den USA und europäischen Ländern), um junge Menschen mit den tradierten Texten vertraut zu machen.