„Before I die…“

Kirche und Kunst 2023

Ein Memento mori für unsere Zeit

„Before I die… I want to …“ („Bevor ich sterbe, möchte ich …“) nennt sich ein weltweit erfolgreiches interaktives Kunstprojekt von Candy Chang, das Passantinnen und Passanten im öffentlichen Raum wie ein zeitgemäßes Memento mori befragt, was sie in ihrem Leben unbedingt noch machen wollen, und das sie einlädt, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Es wurde von der Zeitschrift „The Atlantic“ als „eines der kreativsten Community-Projekte aller Zeiten“ bezeichnet und findet sich auch in Graz.

Zur Entstehung von „Before I die“

Der Tod eines geliebten Menschen gab den Anstoß zu ihrer ersten „Before I die“-Wand in New Orleans, erinnert sich die taiwanesisch-amerikanische Künstlerin Candy Chang: „Joan war wie eine Mutter für mich  und es gab noch so viele Dinge, die sie tun wollte: Klavier lernen, in Frankreich leben, den Pazifischen Ozean sehen.“ Der Schock über ihren Tod versetzte Chang nicht nur in eine lange Zeit der Trauer und Depression, sie bemerkte auch, „wie sehr wir es vermeiden, über den Tod zu sprechen.“ 

Über das Leben nachdenken 

Unweit ihrer Wohnung stand ein heruntergekommenes, verlassenes Haus, das voller Staub und Graffiti war. Candy Chang bestrich eine Seite des Hauses mit schwarzer Tafelkreide und brachte darauf mithilfe einer selbstgemachten Schablone den weißen Schriftzug „Before I die, I want to __“ an: „Damit jeder ein Stück Kreide in die Hand nehmen konnte, um über Tod und Leben nachzudenken und seine persönlichen
Wünsche in der Öffentlichkeit zu teilen.“
Zum großen Erstaunen der Künstlerin war die Wand bereits am nächsten Tag vollgeschrieben, und es kamen ständig neue Nachrichten dazu: Bevor ich sterbe, will ich... „für Millionen singen“, „meine Frau zurückholen“, „alle Kohlehydrate essen, die ich will“, „ganz ich selbst sein“ usw.
Die ganze Bandbreite menschlichen Empfindens wurde abgebildet, so Candy Chang, ein „ehrliches Durcheinander von Sehnsucht, Angst, Unsicherheit, Dankbarkeit, Humor, Schmerz und Gnade, wie
man es in jeder Gemeinschaft findet.“

„Jede Wand ist eine Hommage an ein geprüftes Leben.“
C. Chang

Wir sind nicht allein

Die Before-I-die-Wand wurde geradezu zum „Eisbrecher“ für bedeutungsvolle Gespräche über Tod und emotionale Gesundheit. Und sie erinnert uns daran, „dass wir alle verwundet gehen, und dass unsere gemeinsamen Kämpfe und Wünsche unsere Unterschiede bei weitem überwiegen.“ 

„Gemeinsam können wir dazu beitragen, die Diskussion über den Tod zu entstigmatisieren und öffentliche Räume zu schaffen, die widerspiegeln, was uns als Individuen und als Gemeinschaft am wichtigsten ist.“ C. Chang

Weltweite Resonanz

Mittlerweile finden sich weit über 5.000 Before-I-die-Wände in über 75 Ländern der Welt und in über 35 Sprachen. „Von China bis Iran, von Brasilien bis Südafrika tauchen die gleichen Themen auf“, stellte die Künstlerin fest: „Wir wollen lieben und geliebt werden. Wir wollen sinnvolle Arbeit leisten. Wir wollen die Welt bereisen. Wir möchten, dass es unseren Lieben gut geht. Wir wollen mit uns selbst im Reinen sein.“

Auch in Graz

2018 holte ich das Before-I-die-Projekt nach Graz. Ursprünglich war es nur kurzzeitig für die ökumenische Großveranstaltung Lange Nacht der Kirchen, deren Leiterin ich war, geplant. In Salzburg gab es zuvor Before-I-die-Bretterwände, die an vielen verschiedenen Orten temporär aufgestellt waren. Im Univiertel in Graz fand sich jedoch ein perfekter Platz, weshalb ich mich für eine dauerhaftere Lösung entschied: In Zusammenarbeit mit Peter Wagner von der Caritas Steiermark, die das Café paul@paradise betrieb, und der Katholischen Hochschulgemeinde, zu der der angrenzende Garten gehört, durfte ich an der Außenwand des Cafés eine große Holztafel anbringen. Diese wurde eigens in den Caritas-Werkstätten gefertigt und mittels der von Candy Chang online bereitgestellten Schablonen beschriftet.
Die Before-I-die…-Tafel befindet sich zudem in der Nähe der Leechkirche, die auf einem Grabhügel steht, und ist von der sehr beliebten und zunehmend als Begegnungszone umgestalteten Zinzendorfgasse
einsehbar und bis heute jederzeit zugänglich. Wichtig ist für Menschen, die das Projekt auch bei sich installieren wollen, dass man die Tafel auch immer ein bisschen im Auge hat. So sollte etwa stets Kreide bereitliegen und die Tafel von Zeit zu Zeit fotografiert und, wenn sie zu voll (oder von jemandem etwas ungebührlich beschriftet ist), wieder gelöscht werden.

Bis zum heutigen Tag folgen Passantinnen und Passanten, darunter viele junge Studierende, der stillen Einladung, kundzutun, was sie in ihrem Leben unbedingt noch machen wollen. Und so unterschiedlich
die Menschen in ihrer jeweiligen Verfasstheit sind, so unterschiedlich fallen auch die Antworten aus, die von tiefsinnig ernsthaft bis augenzwinkernd humorvoll reichen, etwa:
Before i die… I want to:

„live“„see my children grow“„be happy““run a marathon“„meet my life love“
„learn German“„dance"„plant a perma culture garden“„finish my studies“„laugh as much as I can“
„go skydiving“„fly to America“„have fun“„swim with dolphins“„break free - God knows
 „hug someone“„be a Christian“„become a famous musician“„love as much as possible“„go on a trip with my friends“
„be myself“„be perfect“„marry“„see all European countries“„travel around the world“
„eat a lot of chocolate“„visit Rome“„visit Baden-Württemberg“„visit Graz again“„stop people hate each other“
„ride an unicorn“„kiss my girl“„write one good poem“„share a lot of time with my beloved husband“„be the change in the world I wish for in others“
„meet all the people carring for peace“„say ‚I love you‘ to my family“„leave my mark in history“„find God“....

Anleitung zum Mitmachen

Die Nutzung des Projekts „Before I die“ ist kostenlos, solange es nicht für kommerzielle oder werbliche Zwecke verwendet wird. Auf ihrer Website https:// beforeidieproject.com hat Candy Chang eine einfache Anleitung für Interessierte erstellt. Zudem gibt es ein sog. Toolkit (als eine Art Werkzeugkasten) zum Herunterladen, das eine Checkliste mit Materialien, eine Schritt-für-Schritt-Anleitung und Vorlagen enthält.

Um den Geist des Projektes zu wahren, ersucht die Künstlerin, folgende einfache Richtlinien zu befolgen: 
• Eine Before-I-die-Wand sollte für jeden zugänglich sein.
• Konzentriere Dich auf Kommunikation, nicht auf Überzeugung.

Die Before-I-die-Wand soll den Passanten eine dringend benötigte Pause von den Botschaften in unseren öffentlichen Räumen bieten, die versuchen, uns etwas zu verkaufen. Deshalb soll Deine Before-I-die-Pinnwand frei von Logos, Slogans, Website-Adressen, Hashtags usw. sein – davon gibt es bereits zu viel auf der Welt. Ihr könnt jedoch gerne ein Schild neben der Wand anbringen, das eine Projektbeschreibung und die Namen der Beteiligten enthält.
Bitte behaltet das Wort „Sterben (die)“ in „Bevor ich sterbe (Before I die)“ bei. Es gibt viel Aberglauben und Angst und wir haben viele Wände gesehen, die „Bevor ich sterbe“ durch etwas Schrägeres oder Sanfteres ersetzt haben, wie zum Beispiel „Solange ich noch lebe“. Obwohl diese Variationen lohnenswerte Übungen sind und ihr jede Art von Wand bauen könnt, die ihr möchtet, sind solche keine Before-I-die-Wände.
Ein wichtiger Teil unserer Mission ist es, das Stigma der Diskussion über den Tod zu beseitigen und dazu beizutragen, Gespräche über die Sterblichkeit in eine visuelle Landschaft zu bringen.

Die Künstlerin bittet auch, Fotos von der Aktion zu schicken, damit sie diese auf ihrer Website und eventuell auch in ihren Buchprojekten veröffentlichen kann.

„Wenn wir uns daran gewöhnen, ehrlich und direkt über den Tod zu sprechen, können wir dazu beitragen, die Kultur um ihn herum zu verändern, von einer, die voller Todesleugnung ist, zu einer, in der wir der
Sterblichkeit auf eine Weise begegnen, die uns als Individuen und als Gemeinschaft mitfühlend vorbereitet.“ 
C. Chang

Kurzum: Ein lohnendes, partizipatives Projekt, das ohne großen Aufwand viele Menschen erreicht und anspricht.

Gertraud Schaller-Pressler
Musikwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin, ist Referentin für Kultur in der Diözese Graz-Seckau
und bildet im Rahmen der von ihr initiierten Ausbildung „KunstWerkKirche“ ehrenamtliche Kirchenführerinnen und Kirchenführer aus.