Leiberfahrung in der Kirche

Kirche-Körper 2022

Anmerkungen zur Deutung des christlichen Gotteshauses

Die Deutung des Kirchenraums als Körper

„Wie? Solltest du fortan dieses Haus nicht mit ganz anderen Augen betrachten und deinen Aufenthalt darin benützen, um diese tiefen geistigen Beziehungen zu studiren, diese Wahrheiten dir für Kopf und Herz, Willen und Leben eigen zu machen?“1 Mit diesen Worten wandte sich 1855 der Pfarrer, Chronist und Heimatforscher Johann Evangelist Schöttle an den „christlichen Mesner“, um ihm die Symbolik der Kirche nahe zu bringen.

Denn: „Es ist in ihr der sterbende Heiland am Kreuze dargestellt; daher die Form des Kreuzes das charakteristische Zeichen jeder christlichen Kirche ist. Der Chor stellt das Haupt Christi dar, …“2. In diesem Sinne fuhr Schöttle fort, die Elemente des Kirchenraums vom Grund- bis zum Schlussstein symbolisch zu deuten, nicht ohne zu beklagen, dass solche Unterweisung der Mesner bisher nicht erfolgt sei, weshalb sie nur gedankenlose und leichtfertige Pflastertreter gewesen seien: „O du brauchst blos gehörig unterrichtet zu sein und die Erfüllung deines Berufes im Gotteshaus wird dir fortan eine Sache des Herzens, des Glaubens, der Liebe und einer besseren Hoffnung sein.“3

Die Aufgabenstellung scheint sich bis heute nicht grundlegend verändert zu haben, wenn vom Bundesverband Kirchenpädagogik e.V. zertifizierte Ausbildungsgänge zum Kirchenführer oder zur Kirchenführerin u. a. Kenntnisse über Baustile, Architektur und Symbolsprache von Kirchenräumen vermitteln. Offenbar ist es so, dass sich die teils komplexen Zusammenhänge in Kirchenräumen nicht unmittelbar und jedermann erschließen.

Immerhin fand Schöttle gut ein halbes Jahrhundert später in dem katholischen Theologen, Archäologen und Kunsthistoriker Joseph Sauer einen bis heute anerkannten Wissenschaftler, der in ähnlicher Weise versuchte, die Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung zu entschlüsseln. Hinsichtlich des kreuzförmigen Grundrisses kommt er allerdings zu einer anderen Deutung.

Die Anordnung des kreuzförmigen Grundrisses folgt der Gestalt des menschlichen Körpers, „…und zwar der Altarraum dem Haupt, die beiden Kreuzbalken des Querschiffs den beiden Armen und der westliche Teil dem Reste des menschlichen Leibes … [worin] die ganze große Körperschaft der Kirche Gottes und deren Gliederung …“ versinnbildlicht ist.4

Schöttle und Sauer gemeinsam ist jedoch, dass sie dem Kirchenraum eine körperhafte Qualität zumessen.

Beide stehen offenbar in der Tradition so bedeutender Dichter wie Goethe oder Novalis. Beide hielten das Symbol für eine aufschließende Kraft. Goethe erläuterte: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, dass die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.“5

Novalis drückte es komplizierter, aber nicht weniger zutreffend aus: „Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. (…) Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es.“6

In diesem Sinn kann die symbolhafte Erschließung des Kirchenraums als Körper, wenn auch in unterschiedlicher Weise, eine größere, dahinterstehende Idee sichtbar werden lassen. Sie muss nur durch fachkundige Erläuterung einem Laienpublikum nahegebracht werden.

Die Erfahrung des Kirchenraums mit dem Körper

Ein knappes Jahrhundert nach dem grundlegenden Werk von Joseph Sauer hat sich die Fragestellung verändert bzw. erweitert. Ausgehend von den Kognitionswissenschaften haben Begriffe wie Körper und Verkörperung als perspektivische Neuausrichtung Eingang in die Sozial- und Geisteswissenschaften gefunden mit der Erkenntnis, „dass menschliches Denken und Verstehen wesentlich an körperliche Vollzüge gebunden sind“7.

Die integrale Verknüpfung von Geist und Körper, von Seele und Leib ist dabei eine vergleichsweise junge Sichtweise der Theologie. Bislang hat das Konzept der Verkörperung in der (evangelischen) Kirchentheorie und Ekklesiologie kaum Raum gefunden. Als ein Impuls und Wegbereiter kann die 2019 in Marburg ausgerichtete, interdisziplinäre Tagung Körper und Kirche. Symbolische Verkörperung und protestantische Ekklesiologie gelten mit einer eigenen Sektion Verkörperung und Raum.8

Was damit gemeint sein kann, erörterte Thomas Erne, Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg (das 2022 geschlossen wird!): „Man muss nur die großen und kleinen Besucher in den Kirchen beobachten, um bei ihnen ein solches religiöses Grundwissen im Blick auf den Kirchenraum zu entdecken. Die Besucher der Kirchen wissen, wie sie mit dem Raum umzugehen haben, um seine besondere Atmosphäre zu erspüren. Sie gehen und stehen, sehen und hören, fühlen und ertasten mit Leib und allen Sinnen den Raum der Kirche.“9 Erne geht dabei von einem christlichen Grundwissen aus, das jedes Kind beherrscht, weil es dem geregelten Wissenserwerb in der Schule oder an der Hochschule vorausgeht, und dieses Grundwissen wird ihm in der Begegnung mit einem Kirchenraum erfahrbar.

Wird also das geistige Konstrukt Kirche in der körperlichen Erfahrung von Kirche konkret, so wird nicht nur die Kirche als Raum durch das geistige Vorwissen gedeutet, sondern im Umkehrschluss hat der konkrete Raum Auswirkungen auf das Verständnis der spirituellen Kirche. Der Kirchenraum in seiner jeweiligen Gestaltung prägt die je eigene Religiosität. Von daher macht es für die religiöse Sozialisation einen Unterschied, ob Firmung oder Konfirmation in einer ländlichen Dorfkirche, in einer Kathedrale oder einem Mehrzweckkirchenraum der 1960er Jahre erlebt werden.

Man kann aber durchaus auch die Erfahrung machen, dass selbst Menschen ohne religiöses Grundwissen in besonderer Weise auf den Kirchenraum reagieren, ihn offensichtlich körperlich in einer Weise wahrnehmen, die ein bestimmtes Verhalten evoziert. Sie reduzieren die Lautstärke beim Sprechen oder sie schweigen, bewegen sich verhaltener, bleiben stehen oder setzen sich hin. Nicht der Intellekt nimmt den Raum wahr, sondern der Körper.

Vor diesem Hintergrund gehört zu den Zielen der Kirchenraumpädagogik neben der Kirchenführung, die über das gesprochene Wort die Augen lenkt und kunsthistorische wie religiöse Zusammenhänge erschließt, auch die offene Kirche, weil man ihr eine eigene körperliche Erfahrbarkeit zutraut, die spirituelle Dimensionen annehmen kann.

Kirchenraumpädagogik – vom Intellekt zum Leib

Älter als die theologische Reflexion über den Kirchenraum und seine leibliche Wahrnehmung, wie sie exemplarisch in der genannten Marburger Tagung 2019 deutlich wurde, ist die praktische Handhabung in der Kirchenpädagogik.

Standen ihre Anfänge in den 1980er Jahren noch unter dem Einfluss der Museumspädagogik, und ihre reale Umsetzung bestand in der sachgerechten Erläuterung von Kirchengebäuden und ihrer Einrichtung, so formulierte der 2000 gegründete Bundesverband Kirchenpädagogik e.V. bereits 2002 in seinen Thesen zur Kirchenpädagogik unter Punkt 2: „Kirchenräume sind Ort, Gegenstand und Medium der  Kirchenpädagogik. Räume machen die eigene Leiblichkeit bewusst; sie werden mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen erfahren. Kirchenpädagogik erschließt Kirchenräume nicht nur sprachlich und visuell, sondern auch im Durchschreiten, Ertasten, Empfinden.“

Mit der Kategorie des Raumes sehen sich Theologie und Kirchenpädagogik einem neu erwachten Interesse am Raum gegenüber, einem seit dem Ende der 1980er Jahre eingeleiteten Paradigmenwechsel in den Kultur- und Sozialwissenschaften, der den Raum bzw. den geografischen Raum als kulturelle Größe wieder wahrnimmt und als soziales Produkt definiert. Den Kultur- und Sozialwissenschaften, die diesen Spatial turn aufs Schild gehoben haben, etwas hinterherhinkend befasst sich nun auch die Theologie mit dem Raum und seiner leiblichen Dimension. Grundlegende Arbeiten zum Raum aus theologischer Perspektive erschienen 2005 und 2015.10

Elisabeth Jooß entfaltet hier nicht nur in eher traditioneller Sicht den Beitrag der verschiedenen Sinnesorgane zur Raumkonstitution wie Berühren, Sehen, Hören oder Riechen, sondern auch komplexe Zusammenhänge von Vertikale, Horizontale und Sagittale (Tiefendimension) im Raum. Ohne dies in diesem Kontext weiter ausführen zu können, sei die Anmerkung erlaubt, dass diese komplexen philosophischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Theorien im Zuge der normalen Kirchenraumpädagogik nur schwierig zu vermitteln sein werden.

DEN VOLLSTÄNDIGEN ARTIKEL GIBT ES IN DER ZEITSCHRIFT 2022

1 Johann Evangelist Schöttle, Liturgisches Handbuch für den katholischen Meßdiener der untern Ordnung: d. i. gründliche und vollständige Einweisung desselben in Ort und Art seiner Pflichten und Verrichtungen, Band 1, Ehingen, Neu-Ulm 1855, S. 40.

2 ebd., S. 38.

3 ebd., S. 40.

4 Joseph Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters: mit Berücksichtigung von Honorius Augustodunensis Sicardus und Durandus, Freiburg 1924, S. 111.

5 Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen, in: Goethe Werke - Hamburger Ausgabe, Band 12: Schriften

zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, München 200814, S. 749.

6 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg), Aphorismen, hrsg. v. Michael Brucker, Frankfurt a.M. 1982, S. 20.

7 Körper und Kirche: Symbolische Verkörperung und protestantische Ekklesiologie, hrsg. v. Philipp David, Thomas Erne, Malte Dominik Krüger u. Thomas Wabel, Leipzig 2021, S. 12.

8 ebd., S. 291–465.

9 Thomas Erne (Hrsg.), Kirchenbau, Göttingen 2012, S. 13.

10 Elisabeth Jooß, Raum. Eine theologische Interpretation, Gütersloh 2005; Clemens W. Bethge, Kirchenraum: Eine raumtheoretische  Konzeptualisierung der Wirkungsästhetik, Stuttgart 2015.

Prof. Dr. Reiner Sörries ist ein evangelischer Theologe, Kunsthistoriker und Christlicher Archäologe. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen, u.a. auch zu liturgischen Orten im Wandel der Zeit.